„Today, though ́identity ́ is ́the loudest talk in town ́, the burning issue on everbody ́s mind and tongue” (Bauman 2004:17). Das schreibt Zygmunt Bauman zu Beginn des Buches “Identity – Conversations with Benedetto Vecchi“, das im Jahr 2004 im polity Verlag erschienen ist. Das Thema Identität hat im Jahr 2023 nicht weniger Brisanz. Das zeigt zum Beispiel die Debatte um die Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman, der Schwarzen, amerikanischen Dichterin, die anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten Joe Biden ein Gedicht vortrug. Das Buch „identity“ ist ein Interview zwischen dem italienischen Journalisten Benedetto Vecchi und dem 2017 verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman. Vecchi war Journalist bei der linksausgerichteten, italienischen Tageszeitung il manifesto. (vgl. il manifesto o.D.)
Für das Interview begegneten sich die beiden nicht in Person, sondern tauschten sich via E-Mails aus. Das Thema ist, wie der Titel sagt, Identität. Im Interview erklärt Bauman in Bezug auf die Moderne und Postmoderne aus verschiedenen Blickwinkeln, wieso Identität(en) heute flüssig und ambivalent sind. Verschiedene, gesellschaftliche Bereiche, wie Partnerschaft, Religion, Politik und Kultur werden aufgegriffen und auf ihre Einflüsse und Wandelbarkeit in Bezug auf Identitätsfragen jede:r Einzelne:r diskutiert. Eines wird dadurch klar: Identität lässt sich aus einer gegenwärtigen Analyse der modernen Gesellschaft nicht ausklammern.
Identität ist für Bauman etwas Ambivalentes, was er auf zwei wesentliche Punkte zurückführt: „[n]ostalgia for the past together with complete accordance with ́liquid modernity ́“ (Bauman 2004:7). „Liquid modernity“, die „flüssige Moderne“, ist eines der Schlagwörter Baumans, das bei ihm für eine nicht fassbare, unsichere und kontingente Welt steht. (vgl. ebd. 3). Dass Bauman nach über 50 veröffentlichten Werken im Interview mit Vecchi zu dem Punkt kommt, über Identität zu diskutieren, liegt an seiner Auseinandersetzung mit der „flüssigen Moderne“. Für ihn ist das Problem der Identität eine signifikante Erscheinung der Moderne. (vgl. ebd. 20) Betrachtet man Baumans Biographie, wird sein Interesse für die Moderne und Spätmoderne verständlich. Geprägt von seinen eigenen Erfahrungen, beschäftigte sich Bauman viel mit Migration und damit, was es bedeutet, fremd zu sein. Er wurde am 19.11.1925 als Sohn einer jüdischen Familie in der polnischen Stadt Poznon geboren, zu Beginn eines politisch zerissenen Jahrhunderts. Aufgrund des zweiten Weltkriegs floh die Familie 1939 aus Polen in die Sowjetunion. (vgl. ZEIT 2017) Baumans Leben war schon früh von diesen politischen Umständen bestimmt. Nach seinem Studium der Philosophie und Soziologie in Warschau immigrierte er 1971 nach Leeds und lehrte dort bis 1991 an der Universität. Zu seinen bekanntesten Werken zählen u.a. „Dialektik der Ordnung (1994) und „Leben in der flüchtigen Moderne“ (2007). Wie Heinrich Geiselberger, Lektor von Zygmunt Bauman, resümiert, wurde Bauman in seinem Denken und Schreiben vom zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und dem Stalinismus geprägt. (vgl. Gutzeit/Geiselberger 2017)
Die Moderne war für Bauman „ein enorm ambivalenter Prozess – geprägt von einem Willen nach Ordnung“ (ebd.), fasst Geiselberger im Interview mit Angela Gutzeit im Deutschlandfunk zusammen. Wenn Bauman eines war, dann ein extrem neugieriger Zeitgenosse, der sich bis zu seinem Tod 2017 mit immer neuen Veränderungen auseinandergesetzt hat.
Für Vecchi, dem Interviewer, scheint die Soziologie eine wichtige Dimension der Identitätsfrage zu sein. (vgl. Bauman 2004:3) Er warnt vor einer Ausklammerung der Identitätsfrage aus dem soziologischen Diskurs. Dies würde zu einer Identitätspolitik führen, die für Vecchi eine globale Bedrohung darstellt. (vgl. ebd.) Diese einführenden Worte lassen auf ein Interview hoffen, dass sich um Identitätspolitik und soziologische Aspekte von Identität(en) beschäftigt. Diese Erwartungen kann das knapp 100 Seiten lange Buch nicht erfüllen. Das liegt u.a. an der Interviewführung von Vecchi selbst. Dass Vecchi als Journalist der linksorientierten Zeitung il manifesto marxistische Denktraditionen aufgreift, liegt nahe. (vgl. ebd. 23 f.) In sich schlüssiger wäre es jedoch gewesen, bei der Ideologie von Marx, dessen Weiterentwicklung (u.a. in der feministischen Theorie) und dem „falschen Bewusstsein“, das als Grundlage der Linken der Reflexion von Identität dient, zu bleiben. Stattdessen geht Vecchi fast die gesamte Schule von Durkheim, über Simmel bis Marx durch. (vgl. ebd.) Lediglich die letzte Frage des Buches richtet sich auf das Thema der Identitätspolitik, „For me, the book needs to explore two other themes: [i]dentity and new media, and the ́policiy of identity ́ (the crisis of multiculturalism)“ (ebd. 76).
Die Kategorien der Fragen um Identität(en) und Identitätspolitik im Interview sind fast ausschließlich auf nationale Identität gerichtet. Vecchi greift einmal feministische Ansätze auf, indem er behauptet, dass die feministischen Theorien die Annahme, Identitäten wären eine unveränderliche Tatsache, auflösten. (vgl. ebd. 83) Das lehnt Bauman ab, indem er antwortet: „The provisional nature of all and any identity and of all and any choise between the infinte multitude of cultural models on offer is not a discovery of feminists and even less their invention” (vgl. ebd. 83) .
Für Bauman ist es Grundlage der Moderne, sich zu fragen, wer man ist. „You cease to ́modern ́once you stop ́modernizing ́, once you put your hands down and stop tinkering with what you are and what the world around you is” (ebd. 83). Identität sieht er als ein Problem, das sich erst im Gemeinschaftlichen zeigt. In der Moderne ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft nicht mehr schicksalhaft. (vgl. ebd. 11) Die Identitätsfragen werden gestellt, weil man sich bewusst werden kann, dass es wählbare Alternativen dafür gibt, wer man sein möchte und mit was man sich identifizieren könnte. Das Ganze ist für Bauman jedoch auch an eine soziale Hierarchie gebunden. Es gibt zum einen die Möglichkeit, sich Identität(en) auszusuchen, auf der anderen Seite, stereotypisiert zu werden. Entweder man befindet sich auf der Seite, an der man sich Identität(en) nach Belieben zusammenstellen und zerlegen kann, oder einem bleibt der Zugang zur Identitätswahl verwehrt. Hier simplifiziert Bauman, was Stuart Hall bereits an Michel Foucault kritisierte. Bauman, genau wie Foucault, stellen eine zu einseitige Erklärung von Subjekten bereit. (vgl. Hall 2004:179) Es fehlt an einer Erklärung der Prozesse, die Menschen subjektivieren und denen sie unterworfen sind. Identitätskrise(n) werden für Bauman ganz besonders durch Staats- und Nationalitätskrisen ausgelöst. (vgl. Bauman 2004:39 f.) Aber muss der Verlust einer nationalen Gemeinschaft immer dazu führen, keine Identität(en) mehr zu besitzen? Kriege und der Verlust von politischen Staaten kann in zwei Richtungen führen. Nationale Identität(en) können verloren gehen, oder aber sie verstärken sich gerade durch ihre Gefährdung. Das zeichnet Kathryn Woodward interessant in ihrem Buch „Identity and Difference“ nach. (vgl. Woodward 1997: 8 ff.)
Außerdem steht das vorangegangene Argument Baumans eigener These im Weg, dass nationale Identität(en) lediglich konstruierte Konventionen seien. (vgl. Bauman 2004: 22) Er schreibt, dass Nationen ihre Macht durch die Konstruktion von nationalen Identität(en) legitimieren. Mit dem Anliegen, monopolistisches Recht zu schaffen, ziehen Staaten Grenzen zwischen „ihnen“ und „jenen“. (vgl. ebd.)
In Bezug auf Baumans Diskussion zur Nationalitätsidentität könnte man mit Armin Nassehis Kritik an der sozialwissenschaftlichen Debatte über Identität(en) teilen: „Die soziologische Semantik der Identität ist also eine Semantik, die Gesellschaft stets nach jenem Container- Modell konzipiert, das weitgehende Integration nicht nur für einen irgendwie wünschenswerten Zustand hält, sondern letztlich sogar für die Bedingung der Möglichkeit sozialer Ordnung schlechthin“ (Nassehi 2002:219).
Identität ist für Bauman etwas, das ständig neu erfunden werden muss. (vgl. Bauman 2004: 77) Jedoch wird im Interview nicht deutlich, ob die Frage nach Identität eine Last oder ein Privileg ist. Auf der einen Seite argumentiert Bauman, dass es Menschen gibt, die die Freiheit besitzen ihre Identität zu wählen und andere nicht. Auf der anderen Seite behauptet er, dass es ein Merkmal der Moderne sei, dass es für jede:n eine Last sei, eine festgelegte Identität zu besitzen. (vgl. ebd. 53) Viele Schlüsselwörter werden dem Leser in dieser Buchveröffentlichung kaum erklärt. Z.B. begründet Bauman wenig nachvollziehbar, inwiefern Identität ihm zu Folge eine Fiktion ist. (vgl. ebd. 20) An diesem Punkt verweise ich auf Judith Butlers Werk „Imitation und die Ansässigkeit der Geschlechtsidentität“. Wer eine präzisere Analyse der Konstruktion von Normen und Diskursen, sowie einem „Original“ als Illusion lesen möchte, dem empfehle ich den Aufsatz der amerikanischen Philosophin. (vgl. Butler 1996)
Für ein Buch, das im Jahr 2004 erschien, werden überraschend wenig Identitätsdiskurse aufgenommen. Da wären z.B. Post- Colonial-Studies, Queer-Theory und feministische Theorien zu benennen. Deswegen lässt die Buchkritik des Guardian, die den „fighting spirit“ Baumanns beschreibt, (The Guardian o.D.) offen, für was und für wen Bauman hier kämpft? Der Soziologe kann sich im Interview kaum von seinen eigenen Identitätsfragen trennen. Heute ist das Buch (gebraucht) über wenige Online-Anbieter erhältlich und kostet knapp 12 Euro. Empfehlen kann man das Interview Lesern, die bereits in einem wissenschaftlich / soziologischen Diskurs verortet sind und ein leicht verständliches Buch lesen möchten. Wer jedoch bereits mit Baumans Werken vertraut ist, wird „Identity“ nicht viel Neues eröffnen.
Kurz gesagt: Bauman lesen? Ja, aber dann bitte nicht unbedingt „Identity“. Sich mit Identität(en) auseinandersetzen? Unbedingt, aber eher nicht mit Bauman.
Literatur: Bauman, Zygmunt (2004): Identity. In conversations with Benedetto Vecchi. Polity Butler, Judith (1996): Imitation und die Ausässigkeit der Geschlechtsidentität. In: Hark, Sabine (Hg.): Grenzen lesbischer Identität. Querverlag, S. 15-37 Gutzeit, Angela und Heinrich Geiselberger (2017): „Für Bauman war die Moderne kein eindeutiger Fortschrittsprozess“. Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunk.de/lektor-ueber-zygmunt-bauman-fuer-bauman-war-die- moderne-100.html [29.6.2022] Hall, Stuart (2004): Wer braucht Identität? In: ders., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Argument, S.167-187 Il manifesto (o.D.): Ciao Benedetto. URL: https://ilmanifesto.it/ciao-benedetto [30.6.2022] Nassehi, Armin (2002): Überraschte Identitäten, in: Straub, Jürgen/Renn, Joachim (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharkter des modernen Selbst, Frankfurt a. M., S. 211- 237 The Guardian (o.D.): o.T. URL: https://www.amazon.de/Identity-Conversations-Benedetto- Vecchi-Century/dp/0745633099 [4.7.2022] Woordward, Kathryn (Hg.) (1997): Identity and Difference. Sage ZEIT (2017): Zygmunt Bauman ist tot. URL: https://www.zeit.de/kultur/2017-01/soziologe- zygmunt-bauman-tot [29.6.2022]
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