Cancel Culture und die dialektische Spannung von Freiheit und Rechten: Theoretische Überlegungen zu einem praxisbezogenen Freiheitsbegriff
Was Eleanor Roosevelt 1948 vor den Vereinten Nationen verlas und in mehr als 300 Sprachen übersetzt wurde, gilt heute als historischer Meilenstein: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UN-Menschenrechtscharta). Jährlich wird am 10. Dezember diese universelle Verständigung auf Menschenrechte zelebriert, an sie erinnert und auf anhaltende Verletzungen dieser aufmerksam gemacht. Die Verwirklichung der proklamierten Menschenrechte gilt seit jeher als Gebot der Menschenwürde und Eckpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Über Grenzen und Kulturen hinweg hat jeder Mensch den gleichen Anspruch auf die in der Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten. Wer nun einen näheren Blick in die UN-Menschenrechtscharta wirft, mag erkennen können, dass der Begriff der Freiheit eine wichtige Rolle bei der Erarbeitung gespielt hat. Freiheit ist ein wiederkehrendes Narrativ bei der Konzeptionalisierung allgemeiner Rechtsvorstellungen. Wenn wir nun über Freiheit sprechen oder schreiben, passiert dies folglich selten ohne das Untermauern durch eine Sprache von Rechten. Im Ringen um Freiheit findet man daher den Freiheitsbegriff oftmals in einer dialektischen Spannung mit Rechten verflochten wieder (Oboe & Bassi 2011: 6). Einen zentralen Ort des Kampfes um Freiheit stellt dabei das Terrain der Rede und der Sprache dar, weshalb die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte das Recht auf freie Meinungsäußerungen ausdrücklich schützt. Auch der deutsche Rechtsstaat gewährleistet gemäß Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz freie Äußerungen der Meinung und verbietet Zensur, um eine Manipulation von Meinungen und Informationen zu verhindern. Freie Meinungsäußerungen sind unabdingbar für Problemartikulationen und Wahrheitsdiskurse in pluralistischen Gesellschaften, weshalb die Garantie dieser Freiheit auf verschiedenen institutionellen Ebenen festgeschrieben wurde. Doch trotz dieser Institutionalisierung von Meinungsfreiheit gaben 2020 einer Allensbach-Umfrage zufolge nur 45 Prozent der Befragten an, das Gefühl zu haben, ihre Meinung in Deutschland frei äußern zu können (Schneider 2021). Noch nie war die Zahl der Personen, die sich angeblich bei der Äußerung politischer Meinungen zurücknehmen, so hoch wie zuletzt. Würde man nun Sahra Wagenknecht (Die Linke), Wolfgang Thierse (SPD) oder diverse AfD- Politiker*innen zu dieser alarmierenden Statistik befragen, so schiene der Ursprung allen Übels schnell gefunden: Cancel Culture bzw. politisch korrekte (diskriminierungssensible) Sprache. Nichts dürfe man mehr sagen, in der Sorge, andere Personen zu verletzen. Doch beinhaltet das Recht auf freie Meinungsäußerung wirklich zugleich das Recht, zu verletzen? Hier scheinen eindeutig zwei Menschenrechte zu kollidieren, nämlich der Schutz der Meinungsfreiheit und der Schutz vor Diskriminierung. Offensichtlich stehen nicht nur Freiheit und Rechte in einem Spannungsverhältnis, sondern auch spezifische Rechte, die der Verwirklichung von Freiheit dienen, denn nicht immer herrscht Einigkeit darüber, was erlaubt ist und was nicht. Beleidigungen zum Beispiel sind nicht vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt. Spätestens seit einem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2020 ist auch rechtlich deutlich geworden, dass Rassismus keine Meinung ist und rassistische Äußerungen demnach nicht zwingend von der Meinungsfreiheit gedeckt sind (Der Spiegel 2020). Doch statt nun krampfhaft die Frage danach, ob man noch frei sprechen dürfe, zu behandeln, sollte dieses dialektische Spannungsverhältnis vielmehr einen Diskurs über unser Verständnis von Freiheit als eines der zentralsten Narrative unserer spätmodernen Gesellschaft eröffnen. Der andauernde Aushandlungsprozess über Grenzen des Sagbaren und der Einbezug verschiedener Positionalitäten veranschaulicht, dass Freiheit eine Geschichte ist, die als Ausdruck lokaler Anliegen von Menschen beginnt und an einer Vielzahl verschiedener Orte geschrieben wird (Oboe & Bassi 2011: 3). Unserem westlichen Freiheitsbegriff liegt eine diskursive Bedeutung inne, die ausgesprochen unbeständig und offen ist. Die Auffassung, (Meinungs-)Freiheit als menschlicher Wert befinde sich in einer tiefen Krise, verdeutlicht, wie zerbrechlich Freiheit sein kann. Doch genau in dieser Zerbrechlichkeit liegt ein Moment der Befreiung, denn nur die Destabilisierung normativer Auffassungen kann uns in der radikalen Ungewissheit der Gegenwart dabei behilflich sein, zu verstehen, was es wirklich bedeutet, mit sich selbst und mit anderen in einer freien Welt zu leben. Indem Freiheit auf die Probe gestellt wird, werden zugleich auch immer Anstrengungen unternommen, Freiheit zu erreichen (ebd.: 6). Eine Debatte um diskriminierungssensible Sprache gibt dementsprechend Meinungsfreiheit nicht ungehindert als unabänderliches politisches Faktum wieder, sondern stellt sie auf die Probe und setzt sie in Relation zu anderen Menschenrechten. Freiheit als Abwesenheit äußerer Zwänge ist zunächst ein kontextbezogener Prozess, der immer im Gegensatz zu dem steht, was lokal als unfrei empfunden wird (Mbembe 2011: 14). Der Wunsch nach diskriminierungssensibler Sprache ist somit als Reaktion auf eine spezifische Praxis der Beherrschung und des Ausschlusses zu verstehen und damit auch zugleich gegen eine bestimmte Erfahrung von Unfreiheit gerichtet. Die Ablehnung diskriminierender Sprache kann demzufolge nicht als Angriff auf die Meinungsfreiheit verstanden werden. Vielmehr manifestiert sich darin eine Kritik an der Moderne, die an der Verwirklichung von Freiheit für alle bisher scheiterte und Freiheit als Konzept lediglich in der Hinsicht förderte, dass sie die Mehrheitsgesellschaft privilegiert (ebd.). Ein wichtiger Schritt in Richtung Freiheit ist, wie unter anderem schon Frantz Fanon (2015) feststellte, die (Wieder-)Herstellung der Sprache. Meinungsäußerungen bilden daher den zentralen Schauplatz bei der Aushandlung von Freiheit. Nun zeigt die Debatte um Cancel Culture, dass in diesem diskursiven Aushandlungsprozess zunehmend vormals unterdrückte Positionen Gehör finden und ein Umdenken der Sprache veranlassen. Damit wird automatisch das vorherrschende Verständnis der Mehrheitsgesellschaft von Freiheit, das als unveränderlich zu gelten scheint, auf die Probe gestellt. Dass die Freiheit der einen Seite dabei nicht zwangsweise die Unfreiheit der anderen nach sich zieht, leuchtet dann ein, wenn Freiheit nicht als große Befreiung der gesamten Menschheit von Irrtum oder Unterdrückung verstanden wird. Stattdessen sollte Freiheit als Kombination vielfältiger und verschiedener Versuche der Bedeutungsfindung sowie -verschiebung betrachtet
werden, worin sich unterschiedliche lokale Erfahrungen der Unterdrückung und Unfreiheit widerspiegeln (Oboe & Bassi 2011: 6).
Selbstverständlich sollten wir dieses Jahr am Internationalen Tag der Menschenrechte wieder daran erinnern, dass das Festschreiben bestimmter Rechte für die Verwirklichung von Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat unerlässlich ist. Allerdings sollte dies nicht über die Zerbrechlichkeit von Freiheit als eine individuelle sowie kollektive Erzählung hinwegtäuschen. Letztendlich wird Freiheit nämlich nie einen festen Seinszustand oder eine Eigenschaft darstellen, die man für immer und unverändert besitzen kann, sondern gilt als eine Art der Tätigkeit. Freiheit ist eine Praxis, die lokal beschritten wird und gesamtgesellschaftlich ausgehandelt werden muss, um in einem wechselseitigen Prozess Bedeutungen und Grenzen zu verschieben sowie neu zu setzen.
Bibliographie
Der Spiegel (2020). Rassismus ist keine Meinung. URL: https://www.spiegel.de/karriere/ bundesverfassungsgericht-rassismus-ist-nicht-durch-meinungsfreiheit-geschuetzt- a-2ab0ebe9-08fe-480e-9f25-0a2ccf1d6e89 (Aufgerufen am 02.12.2022).
Fanon, F. (2015). Schwarze Haut, weiße Masken. Wien [u.a.].
Mbembe, A. (2011). Fragile Freedom. In: Oboe, A., & Bassi, S. (Hg.), Experiences of Freedom in Postcolonial Literatures and Cultures. New York [u.a.]: 13-32.
Oboe, A., & Bassi, S. (Hg.) (2011). Experiences of Freedom in Postcolonial Literatures and Cultures.
New York [u.a.].
Schneider, J. (2021). Meinungsfreiheit in Deutschland. Meine Meinung! Die Zeit. URL: https:// www.zeit.de/kultur/2021-06/meinungsfreiheit-deutschland-allensbach-umfrage- gefuehle (Aufgerufen am 02.12.2022).
Ananya Mehra studiert Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie im Master an der LMU. Zuvor absolvierte sie 2021 ein Masterstudium in Politikwissenschaft. In ihrer Masterarbeit untersuchte sie Identitätsnarrative im deutschen Diskurs und beschäftigte sich mit der Reproduktion zeitgenössischer Rassismusstrukturen durch Inkorporierung, Aneignung und Neutralisierung antirassistischer Diskurse. Zu ihren Interessenschwerpunkten zählen unter anderem die Themenfelder Identitätspolitik, Rassismus- und Antirassismusforschung sowie Postcolonial Studies.
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